„Wir haben inzwischen eine Kleinserienproduktion aufgebaut, aber die größte Herausforderung ist das Thema Skalierung.“
„Sitzen ist das neue Rauchen“ ist heutzutage immer wieder zu lesen. Tatsächlich begünstigt zu langes Sitzen viele der bekannten Zivilisationskrankheiten, seien es Herz-Kreislauferkrankungen, Rücken- und Genickbeschwerden, Fettleibigkeit u.v.m. Die beiden Ingenieure Dr. Johannes Wappenschmidt und Ahmed Chekir möchten dagegen etwas tun. Sie haben an der RWTH Aachen und der Ruhr-Universität Bochum einen smarten Bürostuhl entwickelt, der die sitzende Person permanent in Bewegung hält. Gefördert wurden sie dabei von EXIST-Gründungsstipendium und Start-up Transfer.NRW. Unabhängig von Investorinnen und Investoren befindet sich ihr organisch wachsendes Start-up Vintus gerade auf Wachstumskurs.
Herr Dr. Wappenschmidt, Sie haben zusammen mit Ihrem Co-Founder Ahmed Chekir einen smarten Bürostuhl entwickelt, der für mehr Bewegung im Büro und Homeoffice sorgt. Können Sie erklären, wie dieses Sitzsystem funktioniert bzw. was das Besondere daran ist?
Dr. Wappenschmidt: In der Regel funktionieren herkömmliche ergonomische Bürostühle alle nach einem Prinzip: Bewegung findet nur statt, wenn derjenige, der darauf sitzt, sie selber ausführt. Das heißt, wenn ich selber keine Bewegung ausführe, passiert da auch nichts. Und das ist genau das Problem: Die Menschen konzentrieren sich auf ihre Arbeit. Da haben sie nicht den Kopf frei, um noch alle fünf Minuten über ihre Bewegung nachzudenken. Unser Gehirn ist nicht dafür gemacht, sich auf eine Arbeitsaufgabe zu konzentrieren und gleichzeitig die ganze Zeit darüber nachzudenken, wie ich meinen Körper bewege. Genau das haben wir umgedreht. Das bedeutet: Selbst, wenn ich während meiner Arbeit völlig in Gedanken versunken bin, ändert sich dennoch fortlaufend meine Haltungsposition.
Das heißt, Ihr Bürostuhl bewegt sich von alleine?
Dr. Wappenschmidt: Genau. Wir haben den smarten Bürostuhl „Hipwings“ entwickelt, der dank seiner innovativen Sensorik und elektromotorisch bewegter Sitzteile fortlaufend Bewegungsimpulse an die sitzende Person gibt. Deren Stütz- und Haltemuskulatur unterhalb des Schultergürtels bleibt damit ständig in Bewegung. Darüber hinaus beinhaltet unser Systemein Monitoring, das die individuelle Sitzhaltung erkennt. Wir können dadurch die Bewegungsabläufe und die Bewegungsintensität individuell anpassen.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen?
Dr. Wappenschmidt: Ahmed Chekir und ich haben uns ursprünglich am Helmholtz-Institut für Biomedizinische Technik an der RWTH Aachen mit Herzunterstützungssystemen, Kunstherzen und der Therapie von Herz-Kreislauf-Erkrankungen beschäftigt. Im Rahmen meiner Promotion ging es dann oft auch um die Frage, warum die Fallzahlen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen kontinuierlich steigen. Warum haben wir ständig mehr Patienten? Und welche Präventivmaßnahmen gibt es, um die Fallzahlen auch in einer alternden Gesellschaft beherrschbar zu halten? Die Antworten auf diese Fragen haben deutlich gezeigt, dass man die Fallzahlen in jedem Fall massiv senken könnte, wenn man 20, 30 Jahre früher mit geeigneten Präventionsmaßnahmen beginnen würde. Natürlich kann man damit Herz-Kreislauferkrankungen nicht vollständig verhindern, da muss man sich keine Illusionen machen, aber man kann die Fallzahlen deutlich verringern.
Wir haben uns dann in der Folge näher mit den Risikofaktoren beschäftigt. Dabei wurde klar, dass unser Sitzverhalten ein ganz entscheidender Risikofaktor für verschiedene Zivilisationskrankheiten ist. Dazu gehören nicht nur Herz-Kreislauferkrankungen, sondern auch Rücken- und Gelenkschmerzen, Diabetes mellitus Stoffwechselerkrankungen, Depressionen und vieles mehr. Wer heutzutage einer Büroarbeit nachgeht, sitzt in der Regel den ganzen Tag auf einem Bürostuhl. Danach geht es nach Hause, wo viele den Abend dann ebenfalls sitzend verbringen, ob am Esstisch, vor dem Fernseher oder Computer. Uns selbst als Ingenieuren geht es da nicht besser. Wir wollten also eine Lösung finden, die diese Volkskrankheiten präventiv angeht und haben uns mit dem Thema Bewegung auseinandergesetzt.
Haben Sie in Ihrem wissenschaftlichen Umfeld an der RWTH Aachen alles vorgefunden, um Ihre Idee zu entwickeln?
Dr. Wappenschmidt: Zunächst einmal ja. Damals ist auch dieser Mut zum Gründen entstanden. Wir dachten, dass die Entwicklung eines smarten Bürostuhls im Vergleich zu einem Kunstherz-System ein „Spaziergang“ ist. Ehrlicherweise muss ich aber sagen, dass wir den Aufwand dann doch etwas unterschätzt hatten. Wir hatten zum Beispiel nicht damit gerechnet, dass auch im Consumer-Bereich die bürokratischen Anforderungen recht hoch sind.
Sie haben sich zusammen mit Ahmed Chekir auf die Gründung Ihres gemeinsamen Start-ups vorbereitet. Können Sie etwas zu Ihren fachlichen Kompetenzen sagen?
Dr. Wappenschmidt: Wir sind beide Ingenieure, verfolgen aber unterschiedliche Interessensgebiete. Deswegen ergänzen wir uns im Team sehr gut. Ahmed ist sehr technikorientiert und der Fachmann für technische Konstruktionen, Automatisierungstechnik, Elektronik, aber auch hardwarenahe-Programmierung. Er ist technisch extrem breit aufgestellt. Mein Gebiet ist das Innovationsmanagement. Ich habe mich in meiner Promotion zum Beispiel mit der Anmeldung von Patenten, dem Aufbau von Forschungsprojekten usw. beschäftigt und später auch eine mehrmonatige Weiterbildung zum zertifizierten Innovationsmanager gemacht. Deshalb kümmere ich mich in unserem Unternehmen um die Frage, was notwendig ist, um eine Innovation - jenseits von technischen Fragen -, in den Markt zu bringen. Welche Rahmenbedingungen und Unterstützung braucht es, und wie stellt man das Vorhaben, die Arbeitsstrukturen und das Team auf, um auch bei unerwarteten Hindernissen anpassungsfähig zu bleiben? Nur wenn diese Fragen gemeinsam mit einer technischen Ausarbeitung erarbeitet werden, kann am Ende ein innovatives Produkt herauskommen, das am Markt erfolgreich ist.
Sie haben keine Betriebswirtin bzw. keinen Betriebswirt im Team, haben an der RWTH Aachen aber trotzdem mit Unterstützung der RWTH Innovation erfolgreich ein EXIST-Gründungsstipendium beantragt. Bei den Gründungsvorhaben, die über EXIST gefördert, sieht der Fördergeber es aber ganz gerne, wenn noch ein BWLer an Bord ist.
Dr. Wappenschmidt: Das stimmt schon. Und natürlich haben wir auch mit BWLern gesprochen, nur: Die Betriebswirtschaftslehre bildet die Studierenden in der Regel für die Arbeit in Unternehmen aus, die bereits über ein validiertes Geschäftsmodell verfügen. Das ist ein Unterschied zu einem Start-up. Das ist nicht einfach nur ein kleineres Unternehmen. Ziele und Arbeitsweisen unterscheiden sich grundlegend von etablierten Unternehmen. Ein Start-up hat in seiner Frühphase das Ziel, ein neues Geschäftsmodell zu entwickeln und im Markt zu validieren. Diese Arbeit erfordert grundlegend andere Kompetenzen im Vergleich zu einer klassischen Managementposition in einem etablierten Unternehmen. Wir haben uns diese Kenntnisse durch Accelerator-Programme aufgebaut, aber auch indem wir von Beginn an Coaches und Mentoren in das Vorhaben eingebunden haben. Einen klassisch ausgebildeten Betriebswirt möchten wir einbinden, wenn das Geschäftsmodell des Startups validiert ist und das Produkt die nötige Marktreife besitzt. Ist dieser Schritt erfolgt, wird eine betriebswirtschaftlich versierte Person unverzichtbar, um zu skalieren. Davon konnten wir dann letztlich auch den Gutachter für das EXIST-Gründungsstipendium überzeugen.
Sie haben dann Aachen verlassen und sind mit Ihrem Gründungsprojekt an die Ruhr-Universität Bochum gegangen. Warum?
Dr. Wappenschmidt: Ausschlaggebend war die fachliche Seite. Wir haben in ganz NRW mit sehr vielen Professorinnen, Professoren, Physiotherapeutinnen und -therapeuten darüber gesprochen, wie die gesündeste Bewegungsform für ein Sitzelement aussehen könnte. Wie sollen sich Leute, die acht Stunden im Büro sitzen bewegen? Wir dachten damals, das sei eine einfache Frage, auf die es eine klare Antwort gibt. Aber weit gefehlt! Es hat mehrere Wochen und viele leidenschaftliche Diskussionen gebraucht, bis wir uns am Ende darauf einigen konnten, dass das Gehen die gesündeste Art der Bewegung ist. Unser Körper ist evolutionär dafür gemacht, jeden Tag 30 Kilometer zu gehen. Also haben wir versucht, den Gehvorgang in die sitzende Körperhaltung zu übertragen, ohne dass es die Person beim Arbeiten stört. Wir haben neun verschiedene Prototypen gebaut und die Bewegungsform immer weiter angepasst. Im Ergebnis hatten wir einen smarten Bürostuhl entworfen, der zum einen physiologisch orientierte Impulse ermöglicht, um den Sitzenden in Bewegung zu halten, und zum anderen eine langzeitige Nutzung ohne Störung der Büroarbeit ermöglicht. Diese Lösung für beide widersprüchlichen Anforderungen war die Grundlage für unser Produkt und der Prototypenstand in Aachen.
Und wie kam dann die Ruhr-Uni ins Spiel?
Dr. Wappenschmidt: Das System, das wir entwickelt hatten, hat sich sehr stark am menschlichen Gehen orientiert. Aber natürlich konnte es wegen der sitzenden Körperhaltung den „normalen“ Gehablauf nicht eins zu eins nachahmen. Wir wollten daher wissen, wie sich unser sich selbst bewegendes Sitzelement auf den Körper auswirkt. Welche nachweisbaren positiven Effekte gibt es? Welche negativen Effekte gibt es womöglich? Bei welchen Vorerkrankungen darf das Sitzelement nicht genutzt werden? Zu diesen und weiteren Fragen haben wir Fachleute gesucht. Wir haben also mehrere Hochschulen kontaktiert, die dafür hätten in Frage kommen können. Als wir in dem Zusammenhang dann auch beim Lehr- und Forschungsbereich Sportmedizin und Sporternährung an der Ruhr-Universität Bochum anriefen, fiel unsere Gesprächspartnerin aus allen Wolken. Wie es der Zufall so will, hatte man dort gerade ein sechsjähriges, interdisziplinäres Forschungsprojekt zur Prävention und Therapie von Rückenschmerzen abgeschlossen. Und nun suchte man nach Möglichkeiten, die Ergebnisse in die Praxis zu überführen. Das war natürlich ein Volltreffer. Und so sind wir nach Bochum gekommen.
Hatten Sie dann auch Kontakt zum WORLDFACTORY Start-up Center?
Dr. Wappenschmidt: Ja, die WORLDFACTORY haben wir dann auch kennengelernt. Die ist ziemlich cool! Zum Beispiel haben die Coaches mehrheitlich schon mal ein Start-up gegründet und bringen so ganz praktische Erfahrungen mit ein. Ganz am Anfang unserer Gründungsvorbereitungen dachten wir immer, wir müssten mit Leuten sprechen, die mindestens 40 Jahre Managementerfahrung haben. Die haben uns dann auch viele Tipps gegeben, aber das war oft nicht das, was wir in der Phase, in der wir uns befanden, wirklich brauchten. Uns haben vielmehr die Gespräche mit Gründerinnen und Gründern weitergeholfen, darunter auch einige, die mit ihrem Vorhaben gescheitert waren. Das war viel konkreter an dem dran, was wir in dem Moment brauchten. Die konnten unsere Situation auch viel besser nachvollziehen. Deswegen sind die Coaches der WORLDFACTORY für uns als Sparringspartner bis heute sehr hilfreich.
Bei der WORLDFACTORY haben Sie an einem Pitch teilgenommen, an dessen Ende Sie zu einem der Top-5-RUB-Start-ups 2023 gekürt wurden. Was bringt Ihnen diese Auszeichnung?
Dr. Wappenschmidt: Mit der Auszeichnung ist zum Beispiel eine Messeförderung verbunden.Die ist für uns sehr wichtig, weil unser Produkt bzw. unser Start-up dadurch an Sichtbarkeit gewinnt. Abgesehen davon sind Pitch-Events wie das an der RUB gerade für innovative Start-ups sehr hilfreich. Bei einem ganz neuartigen Produkt schlägt man ja einen vollkommen neuen Weg ein und kann noch gar nicht genau einschätzen, welche zusätzlichen Anwendungsbereiche und Marktchancen es noch gibt. Von daher ist es spannend, bei solchen Events Unternehmensvertreterinnen- und -vertreter kennenzulernen und über weitere denkbare Anwendungsgebiete zu sprechen.
Sie haben im November 2021 die Vintus GmbH gegründet. Dort bieten Sie aber nicht nur Ihren „Hipwings“, sondern auch den Bau von Prototypen und Kleinserien an. Ist das die Cash-Cow, die Ihnen ein organisches Wachstum ermöglicht?
Dr. Wappenschmidt: Richtig. Wenn man ein neues Hardware-Produkt entwickelt, schreibt man zu Beginn erst einmal keine schwarzen Zahlen. Gerade die ersten Stückzahlen sind dabei außerdem sehr kostenintensiv und entsprechend teuer im Verkauf. Wenn man das ohne eine Beteiligung durch Investoren finanzieren möchte, braucht man ein zweites Standbein.
Nun gibt es ja schon einige Ingenieurbüros, die die Entwicklung von Prototypen und Kleinserienproduktion anbieten. Worin unterscheiden Sie sich von Ihren Wettbewerbern?
Dr. Wappenschmidt: Wenn Sie einem klassischen Ingenieurbüro einen Entwicklungsauftrag erteilen, müssen Sie zu Beginn festlegen, was die Ingenieurinnen und Ingenieure für Sie entwickeln sollen. Das funktioniert umso besser, je genauer zu Projektbeginn Ihre Vorstellung davon ist, welche Anforderungen das spätere Produkt erfüllen muss und wie die Rahmenbedingungen für seinen Einsatz aussehen. Problematisch wird es erst, wenn Sie diese Anforderungen und Rahmenbedingungen noch nicht genau kennen. Das ist bei innovativen Vorhaben aber leider immer der Fall. Häufig werden deshalb viele zeit- und kostenintensive Änderungen im Entwicklungsprozess notwendig, die ihre Ressourcen und ihren Zeitplan überfordern können.
Wir haben uns daher genau auf diese Aufgabe spezialisiert: innovative Vorhaben, für die es noch kein validiertes Geschäftsmodell gibt, voranzutreiben. Das tun wir, indem wir die technische Entwicklung als ein Baustein im Innovationsprozess sehen, aber nicht als Selbstzweck. Wir sind nicht damit zufrieden unseren Kundinnen und Kunden zu sagen, dass wir genau das entwickelt haben, was sie uns zu Projektbeginn beschrieben haben, denn das kann bei innovativen Ideen zu dem Zeitpunkt noch niemand wissen. Unser Anspruch ist es, gemeinsam herauszufinden, welche Anforderungen und Rahmenbedingungen es gibt, um ein marktfähiges Produkt zu kreieren. Das heißt, wenn wir mechanische Konstruktionen, Elektronikgeräte und IoT-Anwendungen entwickeln, dann tun wir das mit dem Ziel vor Augen, ein neues Geschäftsmodell zu entwickeln und zu testen. Auf diesem Weg können neu gewonnene Erkenntnisse über Kundenbedürfnisse und Markterfordernisse dazu führen, dass sich die technische Ausrichtung grundlegend ändern muss. Deshalb konzentrieren wir die technische Entwicklung während dieses Suchprozesses auf die absoluten Kernfunktionen, die wir testen möchten. Auf Details und Zusatzfunktionen wird bewusst verzichtet, um mit möglichst wenig Ressourcen so viele Erkenntnisse über die Markterfordernisse wie möglich zu sammeln. Diese Herangehensweise und Zielsetzung unterscheidet uns von klassischen Ingenieurbüros und hat ihren Ursprung natürlich in unserer eigenen Produktentwicklung.
Wie sieht es aktuell aus? Vor welchen Herausforderungen stehen Sie?
Dr. Wappenschmidt: Wir haben eine lange Liste mit Interessenten aus Deutschland und der Schweiz, die unser Sitzsystem an ihrem Arbeitsplatz testen möchten. Wir können aber noch nicht in den erforderlichen Mengen liefern. Wir haben zwar inzwischen eine Kleinserienproduktion aufgebaut, aber die größte Herausforderung ist das Thema Skalierung. Wir müssen eine Großserienproduktion aufbauen, um die Stückkosten senken zu können. Der Punkt ist ja, dass wir einen Beitrag dazu leisten möchten, die Zahl der durch das Sitzen mitverursachten Zivilisationskrankheiten deutlich zu verringern. Das ist unsere Motivation, die uns antreibt. Unser Sitzsystem muss also so günstig sein, dass es sich auch möglichst viele Leute leisten können, um davon zu profitieren. Und in diesem Entwicklungsstadium unseres Start-ups kommt natürlich die Betriebswirtschaft ins Spiel, nach der Sie zuvor gefragt hatten.
Und dafür suchen Sie noch einen Kooperationspartner?
Dr. Wappenschmidt: Richtig, unser Wunschszenario ist es, ein größeres Partnerunternehmen zu finden, dass Erfahrungen in der Skalierung von erklärungsbedürftigen Hardwareprodukten mitbringt und idealerweise auch über eigene deutschlandweite Präsentationsflächen verfügt. Denn die Menschen möchten unser Produkt vor dem Kauf erst einmal selbst ausprobieren. Ideal wäre ein großes Unternehmen, das sagt: Wir beteiligen uns an der Vorfinanzierung der Produktionskosten und präsentieren das Sitzsystem dann deutschlandweit auf unseren Verkaufsflächen. Unter welchem Unternehmensnamen das Produkt dann angeboten wird, ist für uns nicht entscheidend. Wichtig ist uns, dass unsere Lösung die Menschen erreicht, die jeden Tag zu lange sitzen.
Eigentlich bieten Sie doch alles, wovon ein etabliertes Unternehmen nur träumen kann: ein innovatives Produkt und eine große Nachfrage. Woran hakt es denn?
Dr. Wappenschmidt: Wir haben sehr viel über diese Herausforderungen von unseren Gesprächspartnern aus der Möbelindustrie gelernt. Die haben teilweise sehr ehrlich mit uns geredet. Das war ein super hilfreiches Feedback. Ein Punkt zum Beispiel: Bei unserem smarten Sitzsystem handelt es sich nicht einfach um ein neues Produkt, das etwas andere Funktionen hat als die Produkte, die die Kundinnen und Kunden schon kennen. Es handelt sich stattdessen um eine neue Produktkategorie. Solange das Produkt zu Beginn noch wenig verbreitet ist, können die Kunden den Mehrwert des neuen Produkts also noch nicht ohne Erklärung auf den ersten Blick verstehen. Lassen Sie mich das mit einem Vergleich erklären. Als es die ersten eBikes gab, dachten die meisten Menschen, dass sie doch lieber das preiswertere Hollandrad nutzen möchten und haben den Mehrwert der teureren eBikes für sich noch nicht erkannt. Erst als die Menschen durch die weitere Verbreitung der eBikes verstanden, dass sie mit dem eBike zum Beispiel die Kinder zur Kita bringen können, anstatt das Auto zu nutzen, oder längere Urlaubsreisen mit dem Rad zu machen, die sie körperlich sonst nicht schaffen würden, verstanden sie den eigentlichen Mehrwert der eBikes. Das war ein langer Weg, der bei neuen Produktkategorien nicht von heute auf morgen stattfinden kann. Deshalb braucht man in diesen Fällen einen längeren Atem und muss eine neue Produktkategorie auch gänzlich anders erklären, als man das mit reinen Varianten eines bekannten Produkts tun müsste. Bei einer echten Produktinnovation gibt es keinen ausgetrampelten Pfad, dem man einfach folgen kann. Man muss einen neuen Weg beschreiten und das stellt nicht nur für Start-ups, sondern auch für etablierte Unternehmen immer wieder aus Neue eine Herausforderung und ein Risiko dar.
Was lief denn bisher besonders positiv?
Dr. Wappenschmidt: Da gibt es einiges. Wir haben zum Beispiel nach langer Suche einen hervorragenden Produktionspartner in Bonn gefunden und vom Patentamt haben wir die Rückmeldung erhalten, dass das Patent jetzt bewilligt und erteilt wird. Außerdem starten wir gerade gemeinsam mit der AOK NordWest und der Ruhr Uni Bochum einen weiteren Feldversuch mit Bürobeschäftigten. Und schließlich haben wir noch die Möglichkeit bekommen, unser Produkt auf weiteren Messen wie der Medica vorzustellen. Sehr positiv war auch, dass wir von 2019 bis 2021 durch das Programm Start-up-Transfer NRW gefördert wurden, so dass wir an der Uni Bochum die Funktionsweise und Anwendungswirkung unseres Prototyps, den wir während der EXIST-Förderphase entwickelt hatten, wissenschaftlich fundiert auswerten konnten. Wir verstehen heute deshalb viel genauer, wie die Bewegungsanregungen auf den menschlichen Körper wirken, und wie wir die Bewegungsanregungen über Software individuell an die Bedürfnisse von Menschen anpassen können. Das wäre ohne das Programm nicht möglich gewesen.
Haben Sie zum Abschluss noch einen Tipp für andere Gründerinnen und Gründer?
Dr. Wappenschmidt: Ich liebe diese Frage. Die Antworten darauf habe ich am Anfang meiner Gründung auch ständig gelesen. Dann meint man, wenn man diese ganzen Tipps beherzigt, klappt das schon mit der Gründung. Heute würde ich sagen: Jede Gründung ist eine sehr individuelle Geschichte, vor allem dann, wenn man ein innovatives Produkt entwickelt. Tipps von anderen sind da auf jeden Fall wichtig, aber letztlich muss man immer selbst beurteilen können, was genau für einen davon in Frage kommt und was nicht.
Weitere Informationen:
Stand: Oktober 2023
Die Initiative Exzellenz Start-up Center.NRW fördert das REACH-EUREGIO START-UP CENTER an der Universität Münster.
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